Petr Hrbek im Flyer „Retour de Paris“, Ausstellung vom 12.03.-10.04.1987 im Institut Francais de Stuttgart

NICHT WENIG MÜNDER
DIE MAN KÖNNTE …
ACH FISCHE SPRECHT ENDLICH AUS
WAS EUCH BERÜHRT WIRKLICH
AUSSER WASSER
DASS IHR NICHT TOT SEID
IN EUREM BAD

(Paris, Ende 1985)

Meine Liebste,
schon wieder ein Jahr, seit ich meinen bisher vorletzten Geburtstag feierte. Dass es uns immer eine neue Zahl kostet, bekamen wir auch zugeteilt – und ein halbes Jahr Paris für mich, für was, für wen?
In Paris malen war immer fast ein Gefühl der Lüge an die Zeit und dann doch gehalten vom schlechten Gewissen: diesem Drang der Existenzsicherung unterlag ich ab und zu und malte wie verrückt.

17. Januar – wirklich schon ein Jahr – nehme ich den breitesten Pinsel in die Hand und male mir eine satte rote 31 auf das große fertige (so sagte man mir) Bild, Ich habe Geburtstag – die rote Farbe fließt der Erdanziehungskraft wegen ihre Freudentränen und ich freue mich, lache, bin glücklich, dass ich es geschafft habe! Weißt du, dies war für mich ein denkwürdiger Tag; meine Bilder sollten sich als seine Kinder fühlen. Die konzentrierteste Mischung der sich in einem Raum ertragenden Widersprüchlichkeiten, was menschliche Wesen angeht, sollte folgen:

Krystyna aus Polen, die mich versuchte an meine Mutter zu erinnern, als ich noch nicht auf der Welt war, und so manchmal auf ungewöhnliche Weise meinen Mutterkomplex befriedigte, half mir die schweren Salate herzurichten. Die Känguruhs aus Australien schenkten mir ihren ganzen Gläserbestand, weil es in drei Tagen zurück nach Hause geht. Vlado aus der Slowakei half mir mit seinem Auto, Getränke anzuschleppen. Die ungrundierte Leinwand, über den gebauten Tisch gelegt, wartete auf keine Aquarelle. Ich freute mich so auf mein erstes Fest der Täuschung im Ausland, das ich geben durfte. Ich beobachtete die ersten Gäste schon, wie sie auf meine rote-Tränen-lachende 31 reagierten. Die, die den vorherigen Zustand kannten, waren überrascht bis entsetzt und die Neuen mit der Dekoration zufrieden. Es war also alles so exotisch normal und sollte noch normaler werden. Ich wurde durch die verschiedenen Meinungen bestätigt – also zufrieden. Die Klingel an der Tür läutete immer öfters.

Der österreichische Schriftsteller mit berühmten Vorfahren im grünen Parka; der spanische Sänger, der schon die Olympia fühlte; die russische Tänzerin aus dem Alcazar, der polnische Restaurator aus dem Louvre; der tschechische Konzeptkünstler, der heute wieder malt; die Französin, die gerne Bücher über Tschechen verlegt; die ungarische Studentin, die meine Adresse in Ungarn bekam von jemanden, den ich nicht kannte; der eine, immer angesoffene französische Nachtportier der Cité kam auch; die weiche Jüdin mit ihrem polnischen Freund, der seine Jugend in Afrika verbrachte; der jugoslawische Staatskünstler war da; der Graphiker aus Polen, der das Solidarność-Signet entwarf und in Sindelfingen mal ausstellte, brachte mir eine echte, zwei Meter hohe Palme mit angehängten Bananen und Mandarinen. Krystyna, seine Frau, konkurrierte mit einer Ananasfrisur auf dem Kopf. Die deutschen Jungs der Avantgarde mit bayerischem und Düsseldorfer Akzent waren natürlich auch da. Paarmal erklang das Telefon, wo es leider nicht die Türklingel sein konnte. Wild tanzte man um die Palme und die Zeit lichtete uns. Es war 6 Uhr früh und der mit Folienfetzen bedeckte Boden ein zartes Relief. Ich saß da im schwarzen Sessel allein und mein Bild lachte mich mit seinen Freudentränen aus – ich weinte. War ich den wirklich glücklich; war das ein Fest der Täuschung? Die Folie wird ausgewechselt, das Relief geglättet; ich werde die 31 übermalen, mit meinem Rhythmus werde ich weiterfließen, irgendwohin, über die Leinwände meine Pinsel abstreiche, die Füße an neuen Folien schürfen. ICH werde über neue Städte fließen mit und im er näher zu Dir!

Einige Zeit später, ich fuhr ein paar Tage zu Dir, übernachtete ein zwanzigköpfiger Knabenchor der slowakischen Philharmonie heimlich in meinem Atelier. Als ich zurück kam fand ich außer dem verbliebenen Geruch der nicht einholbaren Jugend eine Großpackung von unverbrauchten Wurstpappdeckeln: ich hatte meine Paletten für Monate über Paris hinaus, nur neues Toilettenpapier musste ich kaufen.

Mehrere Monate bin ich schon in Paris. Mich an so mache Ungesundheit gewöhnt, war ich vor einer Woche in einem Hinterhof der rue oberkampf sehr schwer die steile Treppe hinuntergegangen – immer wieder haben ich auf das menschliche Glück angestoßen und auf die kleinen Entchen auf der Seine. Eine winzige Wohnung, in der sich vielleicht nur zwei manchmal nicht stören können – wir lachten, bis unsere Augen glänzten: die Vladimira, Jan, ihr langer Freund, und ich. Sie las mir ihre Gedichte vor, er zeigte mir seine Bilder. Es war einer dieser Abende, an welchen man weiter will, obwohl man nicht mehr kann. Du sollst schlafen, nächste Zeit schlafen.

An meiner 404 läutet es – es muss Samstag sein, aber wie spät? Draußen ist hell – könnte Morgen sein, wo ist die Sonne? Welchen Weg nehme ich zur Tür? „Guten Morgen, Petr, ich weiß, es ist noch sehr früh, aber wir wollten an der Seine entlang spazieren, die letzte Ente aufsuchen, aber sie war nicht da. Du wohnst am Fluss und so dachten wir, dass du mit uns vielleicht ein Bierchen trinkst. Da sind zwei Packs.“ Es war kurz vor 8 Uhr und ich hatte noch diesen butterweichen duftenden ungarischen Speck und als Vladimira ihn probierte, fing sie an zu weinen, weil er so gut schmeckt. So begann einer der zugeteilten Samstage und aus meinem Mund kam wieder dieses Doppelwort Oslava Klamu und wohl des Specks wegen sagte Vladimira: „Ich werde nur für dich etwas schreiben, was Oslava Klamu heißen wird.“ Wenige Tage später hielt ich ihr Manuskript in der Hand.

Fest der Täuschung (OSLAVA KLAMU)
Eine der vielleicht besten Eigenschaften der Sterne ist ihre Farbblindheit, was Sichtbarkeit der Farben ohne alle Sinne bedeutet. Wie in einem Märchen überqueren eigenartige Menschen Mengen von Flüssen, Meeren und Bergen – in diesem Sinne ist die Farbblindheit ihrer Wege zu verstehen. Wie auf einer Landkarte sind Berge, Flüsse und Meere zu sehen und der sichtbare Mensch kennt sich dann in diesen aus. Er kennt sich aus in der Vorstellung der Farben, er weiß, wo er durchschreiten sollte. Es ist ein einfacher Gedankenweg, die Ausführung ist ein Geheimnis, weil man da auf einmal durchgehen muss. Niemand sollte Niemanden zu etwas zwingen. Jeder Zwang ist eine sonderbare Spur in den Bergen. Sie bleibt dort, auch wenn sie weder archäologisch, noch farblich zu begreifen ist.
Die Suche nach Radio und Fernsehen ist ein Suchen nach farbblinden Farben.
In der Mathematik sind die Zahlen farbig. Jeder Millimeter verlangt nach Farbe. Kilometer strahlen Unmengen von Farbe aus. Die Zahlen sehnen sich danach. Der Kosmos sollte von Farben überschäumen, obwohl es keine gibt. Es ist nicht das Weiß an der Tür, noch ist kein grauer Stern auf dem Rahmen. Alles zeichnet sich durch schreckliche Nüchternheit aus. So wie der Gott eine unsichtbare Farbe ist – und was unsichtbar ist, ist nicht. Farbige Träume sind denkbar, die Müdigkeit des Mondes grau, oder? Tage, die sich aus dem Nichts ins Nirgendwo ziehen, sind dennoch. Welche Farbe haben also die Sterne?

Vladimíra Čerepková
Paris, März 1986
Übersetzung: Suzanne Roth

Berlin, Januar 1987
32 Jahre alt.
Diese unerbärmlich laufende Zeit, ständig irgendwo hinter mir so voll der unerfüllten Vorsätze. Ich höre, liebe Zeit, das Zischen deiner Pfeifen unter allen Häuten meines Körpers. Ich muss es doch allmählich gelernt haben, mit dir auszukommen und weiß es doch immer noch nicht, dieses Einholen wollen. Als wäre es der einzige Sinn zwischen den immer endenden Annehmlichkeiten der Gegenwart zu spurten auf irgendein Ziel, welches sich schließlich mit einem auslachenden Geschrei einstellt.

Ein wahrliches Fest der Täuschung. Gut noch, dass ich bereit bin zu festen – oder täusche ich mich?
Ich liebe Dich

Petr Hrbek
(Briefe geschrieben in Berlin, Januar 1987)

Petr Hrbek im Flyer « Retour de Paris » – Institut Francais de Stuttgart
Stipendium vom 1.11.1985-30.04.1986 des Landes Baden-Württemberg in der
Cité Internationale des Arts in Paris