Gerd Hartmann bei der Trauerfeier für Petr Hrbek – Pragfriedhof Stuttgart 13.03.2012

„Im Angesicht des Lebens“

Dieser Satz reicht, liebe Angehörige, liebe Freunde von Petr!
Wenn Sie diesem Satz nachdenken, bleibt nichts mehr zu sagen, denn er beinhaltet die ganze Philosophie des Petr Hrbek, seine Haltung zu dem, was wir „das Leben!“ nennen, bis irgendwann zwischen dem 3.3. und 5.3., 12:30 Uhr (?), wie es auf dem Totenschein steht. Danach gilt eine andere Zeitrechnung. Mitten in der Überwältigung beginnt die Geschichtlichkeit, die Verwandlung des Menschen Petr Hrbek in eine Person der Historie. Es ist ein schleichender Vorgang, kein unerwarteter Stoß, wie ihn sein Tod geführt hat. Der Vorgang ist so schleichend, wie unser Bewusstsein das nicht Fassbare versucht anzunehmen: Es sind die ersten Schritte der Bewältigung auf dem langen Weg der Trauerarbeit.

Wir sehen vor uns Scherben aus Glas wild durcheinander liegend, manche bleigrau, manche flirrend bunt. Unser erster Eindruck ist der eines eingeschlagenen Farbfensters. Das kennen wir: Szenen eines Lebens, zerschlagen, zerbrochen, scheinbar von blinder Hand zerstreut. Versuchen wir, eine Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen; ich sagte eine Ordnung, denn ich vermute, es gibt verschiedene Möglichkeiten dieses Lebensbild zusammenzufügen.

Ich möchte ihnen in 7 Fragmenten einen Weg nachzeichnen, der gleichzeitig so abrupt wie unbestimmt endet. Diese Fragmente liegen zunächst vor uns. (Wie unter dem Grabungsnetz eines Archäologen.) Eine lineare Chronologie gibt es nicht, denn das Leben in Zahlen gaukelt uns eine Geradlinigkeit vor, die es nicht gibt: ein Zahlenleben. Und Petr hat sein Leben nicht wie einen Besinnungsaufsatz gelebt. Was wir aber vor uns haben ist die Simultanität einer Sphärenkugel aus verschieden farbigem Glas, dessen Transparenz zum Zentrum hin immer schwächer wird und uns den innersten Kern nur ahnen lässt.

F 1 oder: Die erste Begegnung mit dem jungen Mann, der noch kein Künstler ist.
Der Bild- und Ausstellungstitel „Im Angesicht des Lebens“ ist – linguistisch gesehen – eine inversive Konnotation. Durch den Austausch der Begriffe „Tod“ und „Leben“ entsteht eine überraschende Positionsänderung des Betroffenen. Wort- und Satzverdrehungen, Para- und Pariphrasierung, bewusste Falschzitate, ins Lächerliche gewendete Weisheiten …

Bis Petr aber solche Sätze sagen konnte, dauerte es einige Zeit. Woher kam dieser subtile Umgang mit der Sprache bei einem Menschen, der eigentlich keinen Zugang zur Literatur hatte?

Ein Gerücht ging um im Jahr 1973: Ein Neuer sollte in die Klasse Mansen kommen. Geheimnisvolles wurde kolportiert: Er sei Flüchtling aus dem Osten, mit 14 Jahren auf unbekannten Wegen aus der CSSR in den Westen gekommen, habe eine Begabtenprüfung bestanden und sei nun außerordentlicher Weise an der Akademie aufgenommen. Die Spannung steigt, reziprok die Coolness der Wartenden.

Die erste Begegnung ist die mit einem extrem schüchternen, schlaksigen jungen Mann, der nicht einmal daran dachte, sich dem Dresscode der siebziger Jahre zu stellen. Achtzehn Jahre war er alt, sprach schlecht Deutsch und wurde viel rot. Nur bedingt ein gelungener Einstand.

Was ihn für mich anziehend machte, war zuerst seine Außenseiterrolle, dann sein ungemein witziger Charme, der zu einem guten Teil vom radebrechenden Gebrauch des Deutschen herrührte. Die Sehnsucht nach dem Exotischen für uns. Für ihn bedeutete es aber, sich die Welt in und mit einer neuen Sprache komplett neu zu bauen. Das macht hellhörig und scharfsichtig. Tschechisches Schlitzohr, das er war, registrierte er den Eindruck, den er damit machte sofort und setzte seine Stilmittel gnadenlos ein.

Zwei Wesenssplitter bleiben hier: Als Außenseite analysiert er blitzwach jede Situation, in der er sich befindet, und beobachtet mit Argusaugen auch die kleinste Reaktion der Umgebung. Schnell war ich davon überzeugt, dass man ihm zunächst nicht viel, später gar nichts mehr vormachen konnte; er sich selber übrigens auch nicht, die Wurzeln zu seiner Dramatik liegen hier.

Er war ein großartiger Erzähler. Da bin ich machtlos, ich schloss mich ihm an. (…) Wir zogen durch die Stadt, ich als Eingeborener im Schlepptau des Fremden: Er zeigte mir meine Stadt! So wie er mir noch vieles Ungesehene und Übersehene am Gewohnten zeigen wird, aus dem Blickwinkel des Fremden. Es dauert, bis er sein instinktives Misstrauen ablegt: Bruchstückartig kommt sein Leben zur Sprache.
Nach der Flucht wurde er zwei Jahre in einem Internat in Schwäbisch Gmünd, sagen wir mal untergebracht Er besuchte eine Wirtschafsschule und begann Deutsch zu lernen. „Eine Katastrophe, ich hatte keine Ahnung was aus mir werden sollte“. Dann der Umzug nach Stuttgart, wo die Tante Josefine lebte, übrigens in der Bismarckstraße.

F 2: Kuks oder Willst du mich noch einmal sehen?
Petr wurde am 17. Januar 1955 in Dvůr Králové nad Labem (Königinnhof an der Elbe) als drittes Kind des Jan und der Anastasia Hrbek geboren. Seine älteren Geschwister sind der Erstgeborene zehn Jahre ältere Pawel und die Schwester Jana. Nach Petrs Schilderungen hatte er eine wunderbare Kindheit. Aber Vorsicht. Petr lernt verdammt schnell. Selbstverständlich hat er bemerkt, auf welchen Boden seine Erzählungen fallen: bei jedem Neuerzählen werden sie weiter ausgeschmückt, Randerscheinungen werden in den Mittelpunkt gerückt, Rahmengeschichten gebaut. Die Erinnerung wird ver-Schweijkt. Ich will damit gar nicht behaupten, Petr habe geflunkert, nein, – handfeste Lügen hat er aufgetischt. Und je größer das Hallo, desto abstruser wurden sie. Aber sie waren so gut erzählt und so verzaubernd vorgetragen, dass es schon Literatur war. So die Geschichte, wie er auf dem Schulweg aus Kalkmangel und Hunger den Kitt aus den Fenstern gepult habe, um ihn zu essen, was dann mit der Zeit zum Herausfallen der unteren Scheiben in den Gebäuden geführt habe, mithin der Oberlauf der Elbe ein fensterscheibenloses Gebiet sei.

Ich habe Schweijk nicht ohne Grund ins Spiel gebracht. Was Petr hier macht, ist seine Form von Vergangenheitsbewältigung, das unverfrorene sich lustig machen über das vermeintlich für immer Verlorene. Ein Versuch, das Entsetzliche zu bewältigen. Kuks heißt auf Deutsch Kukus. Erst später habe ich die kurze Bemerkung auf den Vorwurf, unsere Glaubensbereitschaft nicht allzu sehr zu strapazieren, begriffen: Ich leg nun mal gern Kukuseier. Zunächst glaubte ich mich verhört zu haben. Das für immer Verlorene.

Ungeachtet der weiteren politischen Entwicklung gibt es für Petr damals nur eine Bezeichnung: Flüchtling. Er ist im Exil. Als vierzehnjähriger Schwerstpupertierender wird er aus der Geborgenheit seiner Welt, der Gemeinschaft seiner Freunde herausgerissen und – weg von seiner ersten Liebe. Jahrelang wird er ihr Bild in seinem Geldbeutel tragen. Selten wird er es mir zeigen, ganz anders als die Postkarten von Kuks. Genauer von der Naturgalerie Betern (Bethlehem). Kuks war nach Entdeckung von Thermalquellen ein mondäner Badeort im ausgehenden 17. Jahrhundert. In Stanocicz (Stangendorf) schuf der Barockbildhauer Matthias Bernhard Braun im Neuwald eben dieses Bethlehem. Sechsundzwanzig Figurendarstellungen, die aus den Sandsteinfelsen geschlagen wurden. Sein Schulweg am Wohnort seiner Großmutter führte ihn daran vorbei. Ein unvergesslicher Eindruck für den sechsjährigen Petr, der ihn nie wieder loslassen wird. Mit diesem flieht er mit seinen Eltern in den Westen, wohin die Schwester Jana und der Bruder bereits geflohen waren.

F 3 oder: Am Fuß der Leiter
Was Anfangen mit einem introvertierten, der deutschen Sprache nicht mächtigen Sechzehnjährigen, der die Flucht nur äußerlich unbeschadet überstanden hat? Man war schon in der Heimat auf das zeichnerische Talent Petrs aufmerksam geworden. Aber selbst Petr war in dieser Zeit eher dem Sport zugetan, als der Kunst. Erst jetzt in Stuttgart tritt diese Begabung wieder in den Vordergrund. Nur eines ist klar: für eine gewöhnliche Berufsausbildung ist Petr nicht zu haben. Wie weiß ich nicht, aber vermutlich über die tschechische Gemeinde in Stuttgart – von der wir damals gar nicht wussten, dass sie existiert – kam Petr an die Freie Kunstschule in Stuttgart. Dort traf er zwei Menschen, die ihn sein gesamtes Leben begleiteten werden und einen großen Einfluss auf ihn hatten.
Zunächst war da der Schulleiter Gerd Neisser, der seit 1960 das Institut leitete und 1932 in Brünn geboren ein Landsmann von Petr war. Petr, der sich sprachlich noch nicht ausdrücken konnte, zeichnete auf alles, was ihm unter die Stifte kam, selbst die Innenseite seines Nachtkastens.

Betrachten Sie einmal das Selbstporträt aus dem Jahr 1970, das im Katalog „Ignea Vis“ abgebildet ist. Diese Obsession wird uns wieder begegnen, zum Beispiel 1989 in seinen Installationen „Wärmer“, „Böhmisches Barock“ und im Teufelhof in Basel. Jetzt wird uns schon klarer, was die lichtfangenden Oberflächen des Bernhard Braun in ihm angerichtet haben. Er will die gesamte Oberfläche der Welt in farbiges Licht tauchen, sein Licht.

Von 1971 bis 1973 besucht er also Neissers Kunstschule. Es entwickelte sich eine Zuneigung und es darf wohl behauptet werden, dass Gerd Neisser für Petr eine Vorbildfunktion hatte, und dass dessen Einfluss auf Petr nicht zu unterschätzen ist. Die zweite Person, die er an der Kunstakademie kennenlernte, war Willy Asperger, der seinen Werdegang zunächst als Freund, dann als Förderer und Galerist bis zuletzt maßgeblich beeinflusste. Jetzt zeichnet sich ein Weg ab. Er bekam die Sondergenehmigung, noch vor der gesetzlichen Altersgrenze an die Akademie aufgenommen zu werden.

F 4: Kunstakademie oder – Was kochen wir heute?
Zunächst ist es ein großer Stolz, wenn man – ausgewählt aus Hunderten – in die Akademie einziehen kann. Die Ernüchterung kommt schnell. Ich war, als Petr 1973 kam, schon im 6. Semester und wusste, dass man an der Akademie als Autodidakt eingeschrieben war und hatte seit 1968 ein eigenes Atelier im Remstal. Das hat viel mit Petr zu tun, da auch er relativ enttäuscht war von der Situation und sich mein Refugium in Beinstein mehr und mehr zu einem Zufluchtsort vor der Akademie für uns entwickelte. Ganze Sommer haben wir im Remstal verbracht. In Stuttgart wohnte er im Osten 300 Meter von mir entfernt.

Als Einzelgänger kam uns die Akademie wie ein Zoo vor, in dem die verschiedensten hypertrophen Charakterträger sich selbst ausstellten. In diesem Zusammenhang muss auch auf Petrs Rolle in der Klasse gesehen werden: Schnell verblasste das Interesse am Exoten, dessen Auftreten, wie schon angedeutet, nicht unbedingt siebziger Jahre kompatibel war. Vielleicht sollte ich an der Stelle den Begriff kurz klären, der heute ja nur noch computertechnisch als miteinander funktionieren verstanden wird: wir Altmodischen wissen, dass lateinisch compatior bedeutet: Mitleid haben. Eine absurde Erwartung! Im Übrigen hätten wir uns das auch verbeten: Wir wollten außen stehen. Die sich schon damals abzeichnende Ausschließlichkeit, mit der Petr zeitlebens agierte, dachte, lebte und liebte, machte ihn für schwächer veranlagte Konstitutionen unerträglich. Er gab immer viel, forderte aber alles. Der Satz: „Alles haben zu wollen, wäre auch in diesem Falle zu wenig“, entstand in dieser Zeit.

Bei unseren Streifzügen zwischen Phillipins Landmetzgerei und Murrhardter Hof legten wir die Grundlagen unserer Freundschaft … und stellten fest, dass man gegensätzlicher kaum sein kann. Petr sog mit einer Gier, die man sich nur durch jahrelanges Hungern und Ausgeschlossen sein erklären kann, alles ein, was „Westen“ hieß. Mit atemnehmender Stilunsicherheit hörte er Schlager, las die trivialsten Zeitschriften, trug er die falschesten Kleider. Auf der Gegenseite Gestische und Informelle Malerei, abstrakter Expressionismus. Vor allem de Kooning und Pollok, bis zu Sonderborg waren’s 50 m. Mich interessierte damals mehr mein Parallelstudium der Germanistik, Literatur und Philosophie.

Es waren zwei begeisterungsflammende Welten, die damals aufeinander trafen und vielleicht war es die Begeisterungsfähigkeit, die uns gegenseitig anzog. Auch fand ich in ihm ein Opfer: er musste stundenlange Lesungen aus meinen Lieblingsautoren über sich ergehen lassen. In erster Linie Arno Schmidt und Edgar Allen Poe. Schmidts Erzählungen „Enthymesis“ und „Gadir“ habe ich ihm jeweils an einem Stück vorgelesen. In den späten achtziger Jahren hat er mehrmals den bitteren Satz des Pytheas von Massalia zitiert, der 52 Jahre lang in Gadir im römischen Gefängnis saß und unter anderem den Weg nach Thule entdecken wollte: Ultima Thule, das er Neunzigjährig im Fiebertraum des Todes auch erreichte: „Und wenn ich 5000 Jahre alt werden muss, um euch Säue zu überleben, ich werde es finden.“

Petr erzählte gern von den Kochkünsten seiner Mutter, den gemeinsamen Malzeiten mit der Familie. (…)
Jeder der Petr kennt weiß, dass er eine Mahlzeit so schildern konnte, dass man sie nicht nur vor sich sah, sondern sie tatsächlich roch und schmeckte. Petr besaß eine geradezu barocke Sinnlichkeit und Genussfähigkeit.

Wäre ich damals Schauspieldirektor gewesen, hätte ich den Falstaff mit Petr besetzt. Seine in der Erinnerung eines Geschmacks gespitzten, glänzenden Lippen, unterstützt von den typischen Handbewegungen mit den abgespreizten kleinen Fingern brauchten keine Worte. Einen in der Toskana genossenen „bollito misto“ hat er Jahre später sogar als Bildtitel verwendet. Wir mussten kochen. Und wir taten es mit einer Hingabe ohne Gleichen. In meiner Küche verbrachten wir Abende und Nächte mit Experimenten, die einen Ferran Adria blass gemacht hätten. Einmal, wir hatten Fasan und gedachten, uns gleich einer Aprikosentarte zu widmen, lehnte Petr mit dem Rücken am Gasherd. Können Sie sich den Eindruck vorstellen, als hinter Petr die Flammen hochschlugen? Der Herd war nicht ausgeschaltet, ihm brannte im wahrsten Sinne der Kittel.

Die Akademie nur von weitem im Auge fassten wir einen Plan: Die Operation Rossini. Wir wollten mit 35 so weit sein wie Gioachino Rossini, der in diesem Alter aufgehört hat zu komponieren und sich nur noch dem Kochen widmete. Witzigerweise kommt Petr 1989 darauf zurück, als er von Basel kommend, wo er im Teufelhof ein Zimmer ausmalte, bei uns in Lauffen Station machte und schilderte, wie ihm ein Koch in einer Malpause, die er natürlich in der Küche verbrachte, ein Stück Tournedo Rossini in den Mund schob.

Man musste also Erfolg haben.
Das heißt fleißig sein.
Wie das geht, sehen wir in

F 5: Aufwärts oder die Leiter hat nur zwei Richtungen
Unweit meines Ateliers in Beinstein liegt Geradstetten. Dort betrieb Klaus Kinter seine Galerie. Er gab uns Studenten damals die ersten Ausstellungsmöglichkeiten, eine Gelegenheit, die wir gerne nutzten, und an die Ausstellungseröffnungen denke ich gerne zurück. Wichtig waren dort auch für Petr die ersten Ausstellungserfahrungen. Was jetzt passiert, kann ich nicht mehr genau nachvollziehen: ich weiß nur: Petr kam in Mode. Er arbeitete wie besessen. Die Arbeit geschah in der Abgeschiedenheit, nennen wir es ruhig Klausur. Julius Bissier nennt das Atelier einen mönchischen Ort, soweit möchte ich in unserem Fall nicht gehen, aber wir lernen jetzt eine neue Seite von Petr kennen: das Arbeitstier.

Offensichtlich hatte er jetzt so viel Westen/Leben/Eindrücke in sich hineingefressen, dass es in ihm zu Gären begann. Der vegetative Überzug Rocaille-artig sich fort spinnender Formwucherungen, die die Zeichnungen beherrschten, weicht einer sowohl gestisch wie auch kompositorisch konzentriert ausgeführten formatzentrierten Bildordnung. Meine Frau und ich besitzen eine Mischtechnik aus dem Jahr 1978, Aquarell mit Kreide, noch in zurückgenommener Farbigkeit, bei welcher der Bezug der Binnenform eine starke Beziehung zum Bildrand aufnimmt. Diese Form des Dialogs wird nicht lange ausreichen, die Geste, so expressiv sie auch sein mag, ist zu wenig. Petr will Welten erschaffen. Welten, Welträume und die dazu gehörigen Kosmogonien gleich mit. Hallo! Ich bin auf der Leiter und die hat nur eine Richtung. – Vorläufig. Petr strahlt jetzt eine neue Kraft aus, er hat sich eingelebt, die Orientierung funktioniert (weil eindimensional), er wird akzeptiert, zumindest glaubt er das. Seine Auftritte werden selbstsicherer, er bekommt Mut, fühlt sich stark – und er ist stark.

Ein Charakterzug wird erkennbar: Petr will dabei sein, mitspielen dürfen, das geht nur, wenn er funktioniert, er glaubt dann zu funktionieren, wenn er es allen recht macht, er ist im Rennen. A rat race is a term used for an endless, self-defeating or pointless pursuit. Gut gesagt, nur das „endless“ wird sich als zu überprüfen erweisen. An diesem Punkt verabschiede ich mich, verlasse 1976 ohne jede Wehmut die Akademie und gehe nach London. Von Petr höre ich nur von Dritten. Die Leiter rauf: Ausstellungen hier, Ausstellungen dort. Es ist nur der Anfang. Er bekommt den zweiten Akademiepreis für Zeichnung (!) und verlässt dieselbige.

Die neue Situation: Existenzsicherung. Petr hat tatsächlich einmal so etwas wie einen bürgerlichen Beruf ausgeübt, noch als Student, der Geldmangel war bodenlos. Ich hab ihn damals besucht: Fesch sah er aus in seiner grauen Uniform, die Schirmmütze mit Silberner Litze verwegen = korrekt aufgesetzt. Er war Kartenkontrolleur am unteren Eingang Killesbergpark. Drei Tage ging‘s: Er hat alle umsonst reingelassen. Immerhin, sagte er, als wir seinen Rausschmiss begossen, ich hatte die meisten Besucher. In diesem Sinne hat er sich dann für das Baden-Württemberg Stipendium beworben, das er nach zwei, wie er sagte pädagogischen Ablehnungen, 1983 dann bekommt. 1985 das Cité International des Arts und als Höhepunkt den Kunstpreis junger Westen. Es läuft. Haken wir‘s kurz ab. Einzelausstellungen bei Brigitte March, Haus der Kunststiftung, Galerie Schröder, Mönchengladbach und 1985 Asperger & Bischoff Chicago. Man reicht ihn durch: Institut français Stuttgart, Galerie in fonte Berlin, Rainer Wehr Stuttgart und so weiter … Schluss des name-droppings. In der Zwischenzeit ist etwas passiert, mit dem keiner gerechnet hat. Und deshalb

F 6: Ein Dazwischenspiel oder Unterbrechung mit Folge
1984 Petr ist 29. Da hat der Bürger Haus, Frau, Kinder. Niemand, aber auch gar niemand – und damit meine ich Petr – käme auch nur auf die Idee, an so etwas zu denken. Aber an einem unbenannten Tag dieses Jahres betritt eine gut aussehende schwarzhaarige Dame die Nudelfabrik in Fellbach – und trifft Petr. (…) In meiner Erinnerung fällt mir nur ein, dass Petr zu dieser Zeit kaum erreichbar war. Es muss für ihn sehr schwer gewesen sein, eine Beziehung, die eine für ihn ungewohnte Nähe einer Person bedeutete, nicht nur zu wollen, sondern auch aufrecht und am Laufen zu halten. Da kommt ihm das Stipendium in Paris und in Mönchengladbach möglicherweise nicht ungelegen. Er flieht die Nähe, die im als Übergriff in seine Hoheitsgebiete erscheinen. Die Bilddimensionen sind immer größer geworden, seine Ansprüche wachsen, die Formsprache immer stärker von existentiellen Grundfragen geprägt. Die „Stuttgarter Rettungsquadrate“ haben ihren Namen nicht von ungefähr. Wir haben darüber gesprochen, denn er hat ein ganzes Atelier in der Interimszeit des Stipendiums bei uns gelagert.

Die Maschine Hrbek funktioniert, aber ihr Spritverbrauch steigt proportional zum Kesseldruck. Trotz allem beziehen die beiden 1986 eine gemeinsame Wohnung in der Gutenbergstraße 116. Ursula Binder arbeitet beim Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Danach Berlin. Einige Jahre verschwindet Petr aus meinem Blickfeld, nur Telefonate halten die Beziehung aufrecht. Er berichtet aus Paris, wo er mit vielen Tschechischen Emigranten zusammenkam. Er will unbedingt seine Heimat wieder sehen. Das wird ab 1992 möglich, als er ungehindert in die Tschechei einreisen kann. Es war für ihn überwältigend und er sagte mir, dass er mit dem Gedanken spielt, nach Prag zu ziehen, immer wieder hat er uns bedrängt mit ihm zu reisen, es ist nie dazu gekommen. Viele Ausstellungen in Prag folgen, er ist ständig unterwegs, unsere Verbindung wird wieder enger. Ich kann ihm eine Einzelausstellung im Forum Kunst in Rottweil anbieten. Darauf kommen wir gleich, aber zunächst kommt die Überraschung: Am 17. April 1996 wird Petr Vater: Sein Sohn Simon wird geboren. Wer hätte das 1994 gedacht, als wir seine Ausstellung im Forum vorbereiteten. Wir verlassen das Dazwischenspiel und drehen den Knopf zurück auf

F 7: Der Geldbeutel oder Das Taschenarchiv
Das Forum Kunst ist untergebracht im sogenannten alten Kaufhaus, einem historischen Gebäude in der Innenstadt. Es besteht aus nur einem fast würfelförmigen Raum von ca. 10 auf 9 Metern und ist durch eine ca. 3 Meter breite Empore gegliedert. Dieser Raum ist für vieles geeignet, nur nicht für Ausstellungen, gerade das macht seinen Reiz aus. Die Herausforderung besteht in einer 8 mal 8 Meter großen Wand, die der Empore gegenüberliegt. Steht man auf dieser, kann man sich ziemlich exakt in der Mitte der gegenüberliegenden Wand hin und her bewegen. Diese Situation nutzte Petr zu einer seiner größten Aktionen: Er wollte ein Bild malen mit 6 mal 6 m Kantenlänge, und dies an der großen Wand gegenüber der Empore. Stünde der Betrachter nun auf dieser, wäre er überwältigt von diesem 36 Quadratmeter großen Farbenmeer. Die Stufen abwärts sollte eine Paraphrase zu Holbeins Gesandten die Treppe abwärts schräg nach unten laufen: Allerdings nur der schon bei Holbein in einem Konvexspiegel verzerrte Totenkopf. Wie genial diese Komposition war, wird durch den Titel deutlich. Im Angesicht des Lebens.

Diese Zeit mit Petr in Rottweil war so intensiv wie die Stuttgarter Jahre. Sie waren so intensiv, dass zum ersten Mal Bedenken kamen. Schon immer war Petrs Geldbeutel etwas Besonderes. Niemand wurde von ihm verschont. Er war ein unförmiges, abgeschabtes, seine ursprünglichen Bestimmung – nämlich Geld aufzubewahren, welches Geld? – längst abhandengekommen. Er war zum Platzen vollgestopft mit Adressen, Visitenkarten, Fotos, Zeitungsausschnitten, Notizen. Alles, was andere in Ordnern und Schränken verwahren, war enthalten. Unerschöpflich, unergründlich. Ständig nahm er etwas heraus, zeigte und las vor. Dies war das Archiv seines Lebens. Er trug es – immer auf dem aktuellsten Stand – mit sich.

Sechs Wochen hatte er Zeit für das Bild (…) wir sahen uns täglich. 36 Quadratmeter entsprechen dem Grundriss einer Singlewohnung. Die muss man erst mal bewältigen. Zum ersten Mal wurde ich mit der Arbeitsweise von Petr direkt konfrontiert, was bisher in der Abgeschiedenheit geschah, war nun für mich öffentlich, ich war der Einzige, der noch einen Schlüssel zu dem Raum hatte, in dem er auf dem Boden arbeitete. Schicht für Schicht legte er die Farbebenen über einander. Kontrollieren konnte er das Ergebnis immer nur von der Empore aus. Es war über die Maßen faszinierend, wie dieses Bild entstand. Mit seiner Methode, unzählige Gefäße von gemischten Acrylfarben bereitzuhalten, arbeitete er auch hier. Das gesamte Forum war mit Folien verkleidet, die Farben flogen nur so durch den Raum. Wenn ich ihn abends besuchte, war Petr nur dadurch vom Bilduntergrund zu unterscheiden, dass er sich bewegte. Jeden Tag bis zur Erschöpfung. Es ist wahr: er ist ein Mal auf dem Bild in der ganzen Farbsoße eingeschlafen. Der Malprozess nahm weiter Fahrt auf. Der Druck, der auf ihm lastete war atmosphärisch spürbar. Da ich die Eröffnungsrede halten sollte, machte ich mir natürlich Gedanken, stellte Fragen … Wirst du das schaffen? Dann kam der Satz: blitzschnell im Bücken nach einem Pinsel ein Blick: „und wenn ich 5000 Jahre alt werden muss …“ „Ok“, sag ich, „du hast noch 2 Wochen.“

Er schwamm förmlich in diesem Farbmeer, es war schön zu sehen, bis mir Schopenhauers Satz einfiel: Anzusehen sind die Dinge sehr wohl sehr schön, sie zu sein ist jedoch etwas ganz anderes. Wer war Petr? Dieser mäandernde Farblappen im Farbmeer: In der Enthymesis heißt es: agressi sunt mare tenebrarum, quod in eos esset eploraturi. Ich bin damals zutiefst erschrocken: Edgar Allan Poes Malstrom. Die Szene aus Juraj Liptaks Film „Natura forte“ über Petr überspülte mich, die Szene, in der er sich die Farbhände unter dem fließenden Wasser wäscht, die Kamera zoomt ins Waschbecken, ein Strudel Farbe dreht sich in den Abgrund. Dieser Mann ist Arthur Gordon Pym. Und er ist auf seinem Weg: A descent into the Malstrom. In der Rede selbst habe ich noch versucht, dem Ganzen eine ironische Wendung zu geben, in dem ich Malstrom als einen Strom aus Malerei beschrieb, am Schluss winkt Arthur Gorden Pym aus dem alles verschlingenden Strudel heraus, ein letztes Mal. Ich hatte Petr damals untergehen sehen und ich wünsche mir heute, ich hätte mich damals getäuscht. 10 Minuten vor Ausstellungsbeginn war das Bild fertig. Er konnte sich nicht einmal mehr umziehen. Wir ließen seine frischen Kleider aus der Unterkunft holen. Die Schuhe wurden vergessen. Die farbverschmierten Arbeitsschuhe, in denen er die Eröffnung bestritt, kaufte am selben Abend noch ein Rottweiler Sammler. Er ging barfuß heim. Was war es, das mich damals so entsetzt hat? Ich will versuchen, im letzten Kapitel nur ein paar Stichworte zu liefern und Petr selber sprechen lassen.

F 8: Epilog, oder jenseits von wenn und aber
Ich habe schon angedeutet dass Petrs Maschine immer mehr Sprit brauchte, dass die Abschottung nach Außen immer stärker wurde, bei gleichzeitiger Zunahme der Abhängigkeit von diesem Außen.

Zitat:
„… ich überlege wieder, wie ich dem Schatten ausweiche,
wie ich mir Wasservorräte mache,
wie ich beim Begießen auch andere Pflanzen bespritze,
wie ich es versuchen werde, mich vor denen zu schützen,
die sich dann über mich ausbreiten –
die schuldige Sonne.
Ich flüchte mich nach Italien – Rom.
Auch dort ist die Sonne schuld.
Ich bin wieder da, der Sonne wegen.“

Er setzte sich selber dermaßen unter Druck, um Höchstleistungen zu bringen, er war auf der Leiter hochgestiegen, irgendwann blickte er zum ersten Mal nach unten, da merkte er, dass die Leiter eine verdammte zweite Richtung hatte, die bemerkt man aber nur, wenn man die richtige Fallhöhe hat: davon lebt die Tragödie. Ich denke es ist eine Tragödie: Petr wollte es allen recht machen, wollte alle bedienen, nahm es hin, dass er auch ausgebeutet wurde, beutete sich dabei selbst am meisten aus. Er wollte ein guter Sohn sein, bewunderte seine Geschwister, die sich ein anderes Leben aufgebaut hatten, eines wie auch er es wollte und auch nicht wollte, ein Vater sein, der diesen Namen verdient und immer im Zweifel, ob er es sein kann, ein Liebender, der mehr ist als ein Liebhaber. Sicher nur im Zweifel, von dem er glaubte, dass er sein Leben zweifelhaft mache.

Er war ein Hin- und Hergerissener, er lebte sein Leben wie ein Lichtbogen zwischen zwei Polen, irrsinnige Voltzahlen, Spannung bis zum Zerreißen. Dabei von der Vorstellung einer Schönheit beseelt, die ihn glühen lies, eine Glut die seine Bilder so unwirklich strahlen lässt. die letzten Male, die ich ihn in seinem Atelier besuchte, hatte ich immer mehr eine merkwürdige Vorstellung. Die Straßenzeile, in ihrer ganzen biederen Gediegenheit verschwand völlig, wenn man die Wohnung betreten hatte. Jedes Mal stärker hatte ich den Eindruck, den gotische Kirchen hinterlassen. Das von außen graue Steingebirge verwandelt sich im Betreten zu einem kostbaren Kristall, durch dessen Leuchten man selbst erleuchtet wird. Petr hat sich die Bilder als Trost und Schutz vor die Welt gemalt. Durch seinen Tod sind sie jetzt merkwürdig neu für uns. Wie dieses Neue sich äußern wird, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass sie sehr kostbar sind und verletzlich. Wir wissen durch sie mehr über den Glaskäfig ihres Schöpfers und über das zerbrechliche Sein.

Wie schwer muss es sein für die jetzt 91-jährigen Eltern, ihren Jüngsten überlebt zu haben, wie schwer für die Geschwister, welch einen Mann hat Ursula verloren, was bedeutet es für Simon? Er ahnt noch nicht, was für ein Vater ihm fehlen wird!

Der Konjunktiv steht hilflos blöd wie ein leerer Koffer neben uns: hätten wir können, hätten wir sollen, hätten wir müssen?

Es gibt nur einen Satz jenseits von Wenn und Aber: Wir haben nicht, und damit müssen wir leben!

Gerd Hartmann, Rottweil 2012